Warum Lied? Und warum in Wien?

Das Lied deutscher Sprache, als Kunstform – im Unterschied etwa zum Volkslied oder zum Kinderlied – ist ein Gebilde eigener Art. In Frankreich und Großbritannien wird sein Name als Fremdwort gebraucht – „le lied“ und „the lied“ –; so wird es von den jeweiligen Eigengewächsen, „la mélodie“ und „the song“, abgehoben. Dieses Lied ist das Produkt eines Zufalls, wenn man so will, jedenfalls eines besonderen historischen Glücksfalls: der gleichzeitigen Blüte von Dichtung und Musik in den deutschen Ländern und in Österreich um 1800. Goethe und Schiller einerseits, Beethoven und Schubert andererseits waren Zeitgenossen. Wie zufällig dies war, lehrt der vergleichende Blick auf die beiden anderen Länder: Es gibt zwar bedeutende Dichtung in Frankreich und Großbritannien um 1800, aber kaum einen namhaften Komponisten, während Beethoven und Schubert in aller Welt auf den Konzertprogrammen erscheinen. Ein Zentrum des Genres aber wurde Wien. Neben bedeutenden Anfängen in der Wiener Klassik – Beethoven verfasste den ersten Liederzyklus, der sich im Repertoire gehalten hat, An die ferne Geliebte (1816) – wurde Franz Schubert ab 1815 musikgeschichtlich zur zentralen Figur der neuen Gattung. Allerdings ist es falsch, ihn isoliert zu sehen. Wie Gundela Bobeth in ihrer Studie Lied im Wandel. Studien zur Wiener Liedkultur um 1800 gezeigt hat, war Schubert in der Stadt seiner Geburt umgeben von einer bereits blühenden Liedkultur. Und Wien war auch die Stadt, in der ein, zwei und drei Generationen später die meisten der bedeutenden Liedkompositionen von Johannes Brahms (1833–1897), Hugo Wolf (1860–1900), Gustav Mahler (1860–1911) und sodann der Zweiten Wiener Schule entstanden. Warum also Lied? Weil in keiner anderen musikalischen Gattung so konzentriert zu erleben ist, wie zwei Medien, Wort und Ton, einander steigern. Dies Erlebnis immer wieder möglich zu machen, steht keiner Stadt so sehr an wie Wien – dem Ort, der mehr als jeder andere zu dieser einzigartigen Form der Kunst beigetragen hat.

Prof. Dr. Andreas Dorschel